von Gavin Meissner
Wenn das Thema Faszien zur Sprache kommt, dauert es nicht lange, bis die Verurteilung zum Hype folgt.
So treffe ich immer wieder auf Kollegen, die bei diesem Thema entnervt die Augen verdrehen. Ebenso treffe ich regelmäßig auf junge Absolventen renommierter Ausbildungsschulen für Pferdeosteopathie, die beklagen, dass das Thema Faszien gerade mal einen Tag in Anspruch genommen hat mit dem Hinweis, dass es sich um einen Hype handle, der auch wieder vorüber ginge.
Sogar der Spiegel entblödete sich nicht im November 2018 einen Artikel zu veröffentlichen, in dem meiner Einschätzung nach nicht nur versucht wurde, Dr. Robert Schleip, einen der führenden Forscher auf diesem Gebiet, implizit zu diskreditieren, sondern der inhaltlich von derart ergreifender Schlichtheit geprägt war, dass es sich nicht lohnt, als Pferdetherapeut auch nur einen Blick in den Artikel zu werfen (wer es dennoch nachlesen möchte, findet den Artikel in der Quellenangabe: Hackenbroch, 2018).
Der Begriff des Hypes lässt sich vom Fachbegriff der hyperbel ableiten, ein rhetorisches Stilmittel zur Übertreibung in der Literatur. Interessanterweise kommt der Vorwurf der Übertreibung wie so oft von jenen Personen, die sich überhaupt nicht intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. Somit liegt diese Vorverurteilung weniger in fachlicher Kenntnis und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Thema, als in der Angst, in unserer schnelllebigen Zeit den Anschluss zu verpassen, begründet.
Ein weiterer Grund mag sein, dass sich in den letzten Jahren immer wieder neu anmutende Therapie-Verfahren auf den Markt gedrängt haben, welche im selben Tempo auch wieder vom Markt verschwunden waren.
Doch bei dem Thema Faszien ist dies nachweislich nicht der Fall, im Gegenteil. Die Zahl der veröffentlichen Studien hat sich seit den 90iger Jahren mehr als verdoppelt (Quelle: Schleip, 2014), es vergeht kaum ein Jahr, in dem keine neuen, bisherige Theorien verwerfende Erkenntnisse an die Öffentlichkeit gelangen.
Mittlerweile ist die Erkenntnis, dass Faszien mehr sind als störendes Bindegewebe, welches jahrzehntelang gleichsam von Hobbyköchen wie von Präparatoren an Universitäten geringschätzig weggeschnitten wurde, (fast) überall angekommen. Konnte man vor wenigen Jahren ausschließlich Literatur finden, in der Muskeln komplett freipräpariert waren, so kann heute schon das eine oder andere Bild mit Faszien gefunden werden.
Und tatsächlich hat die Entdeckung, dass Faszien sowohl Lymph- und Blutgefäße als auch Nervengewebe enthalten, viele Techniken manueller Therapieformen verändert. Sanftere Methoden wurden entwickelt, die Sensomotorik steht immer stärker im Vordergrund.
Die für mich faszinierendste Entdeckung der letzten Jahre stammt vom französischen Chirurgen und Faszienforscher Dr. Jean-Claude Guimberteau. Dank neuer Möglichkeiten bei bildgebenden Verfahren konnte das Fasziengewebe in vivo, also am lebenden Objekt, untersucht und gefilmt werden, und das mit einer Vergrößerung und Präzision, die erstaunlich ist.
In der Anatomie, bzw. in der Wissenschaft generell besteht das Bedürfnis, Dinge isoliert und strukturiert betrachten zu können. Dieses im Wissenschaftsparadigma unserer westlichen Welt begründete, durchaus erfolgreiche Verfahren hat jedoch dazu geführt, dass Faszien lokal begrenzt und differenziert von anderen Faszien untersucht wurden. So entstand der Eindruck, der Körper verfügt über eine Rückenfaszie, eine Halsfaszie usw., räumlich getrennte Strukturen, welche, wenn überhaupt, auch getrennt voneinander behandelt werden müssten.
Mit dem 2001 in englischer Sprache veröffentlichen Werk Anatomy Trains, Myofascial Meridians for Manual & Movement Therapists von Thomas W. Myers und der 2015 veröffentlichen Studie Myofascia – The unexplored tissue: myofascial kinetic lines in horses, a model for describing locomotion using comparative dissection studies derived from human lines von Elbrønd und Schultz gab es die ersten Hinweise sowohl in der Humanmedizin als auch Jahre später in der Welt der Pferdetherapie, dass Faszien (und ihre benachbarten Muskeln) eben nicht isoliert betrachtet werden können. Es wurden fasziale Verbindungen nachgewiesen die zeigten, dass biomechanische Abläufe nicht einzelnen Muskeln zugeordnet werden können, sondern das Ergebnis des Zusammenspiels mehrerer anatomischer Strukturen sind. Muskeln und Bindegewebe müssen fortan als Funktionseinheit betrachten werden.
Die von Guimberteau in seinem Werk Faszien – Architektur des menschlichen Fasziengewebes veröffentlichen Bilder zeigen uns nun, dass diese Verbindungen noch viel tiefer reichen, als vermutet. Zwar wiesen Manual-Therapeuten schon länger darauf hin, dass es Verbindungen geben müsse, die viel weitreichender seien, als bislang angenommen, doch hielten die Erklärungsmodelle bisher keiner wissenschaftlichen Untersuchung stand (siehe z.B. Hartmann/Norton 2002).
Versuch der grafischen Nachbildung der faszialen Struktur.
Das Fasziengewebe zeigt bei genauer Betrachtung einen fraktalen Aufbau, d.h. die Art der Konstruktion ist immer dieselbe, egal ob auf makroskopischer, mesoskopischer oder mikroskopischer Ebene. Im Alltag kennen wir das von Schneeflocken. Wenn wir eine Schneeflocke unter dem Mikroskop betrachten, dann scheint die Schneeflocke aus vielen Schneeflocken zu bestehen, welche alle genauso geformt sind, wie eben jene eine Flocke, die wir gerade vergrößert betrachten.
Die sich ständig wiederholende Struktur-Einheit der Faszie ist die von Guimberteau bezeichnete Mikrovakuole, eine dreidimensionale Struktur, die mit Hilfe von feinen Fibrillen Räume formt, in welchen sich wieder kleinere Mikrovakuolen befinden, ähnlich einem Spinnennetz, welches sich in alle Richtungen fortführt, jedoch deutlich chaotischer, ohne die sichtbare Symmetrie eines Spinnennetzes. Innerhalb der Mikrovakuolen befindet sich eine Flüssigkeit, eine Art Gel, die das Volumen konstant hält und dafür sorgt, dass auf die Mikrovakuole einwirkender Druck weitergeleitet werden kann.
Das Besondere daran ist, dass sich diese Struktur durch den gesamten Körper zieht, es gibt keine abgegrenzte Struktur mit Anfang oder Ende (abgesehen von der räumlichen Begrenzung unseres Körpers), ebenso wenig gibt es Freiräume zwischen den bislang isoliert betrachteten Strukturen. Bindegewebige Strukturen ziehen von der Epidermis zu den Muskeln, umschließen und durchdringen diese, verteilen sich in alle Richtungen, umhüllen Organe und Gelenke, dringen vor bis zum Periost und zur Kortikalis, und der einzige Maßstab zur Differenzierung scheint die Dichte des Bindegewebes zu sein. Faszien verbinden und formen, sie verteilen Kraft und schützen vor Druck, sie sorgen für Beweglichkeit und begrenzen diese.
Und so scheint es wenig verwunderlich, wenn pathologische Bewegungsabläufe nicht dort zu therapieren sind, wo sie sichtbar werden. Sanfte Berührungen wirken nicht ausschließlich am Ort der Berührung, sondern sowohl Nervengewebe als auch die mechanische Wirkung der Faszien bringen äußere Einwirkungen des Therapeuten an Orte im Körper, auf die man bei oberflächlicher Betrachtung keinen Einfluss haben sollte, einen Einfluss, vor dem sich selbst leidenschaftliche Gegner der Faszien-Technik kaum erwehren können. Oder wie Thomas Myers es so schön formuliert:
„Die Oberfläche zu berühren, bedeutet
gleichsam in der Tiefe zu wühlen.“
(Myers, 2015)
Quellenangabe
Elbrønd, Vibeke S., Schultz, Rikke M.: Myofascia – The unexplored tissue: myofascial kinetic
lines in horses, a model for describing locomotion using comparative dissection studies
derived from human lines. 2015
Guimberteau, Jean-Claude: Faszien – Architektur des menschlichen Fasziengewebes. Berlin
2016.
Hackenbroch, Veronika: „Was ist dran am Hype um die Faszienbehandlung?“, unter
https://www.spiegel.de/wissenschaft/faszien-was-ist-dran-am-hype-um-die-
faszienbehandlung-a-00000000-0002-0001-0000-000160960512, abgerufen am
10.02.2020
Myers, Thomas in Guimberteau, Jean-Claude: Faszien – Architektur des menschlichen
Fasziengewebes. Berlin 2016. S. 79
Myers, Thomas: Anatomy Trains, Myofascial Meridians for Manual & Movement Therapists.
London 2014.
Schleip, R., Huijing, P.A. (Hrsg.): Lehrbuch Faszien. München 2014. S. III