von Gavin Meissner
Vorbemerkung
Dieser arthron-Artikel beschäftigt sich mit der Polyvagaltheorie, einer Theorie zum Autonomen Nervensystem. Sie stellt eine Erweiterung des gängigen Modells dar und wurde von Dr. Stephen Porges, Professor für Psychiatrie an der Universität North Carolina, 1994 zum ersten Mal vorgestellt. Im Zentrum der Theorie steht das Modell eines dreiteiligen autonomen Nervensystems, mit dessen Hilfe man sich der eigenen Umwelt anpassen und in ihr überleben kann. Kommt es jedoch zu einer Hyper- oder Hypoaktivität einzelner Teile dieses Systems, kann dies Auswirkungen auf die Emotionalität und somit auf das Verhalten haben. Daher hat diese Theorie hauptsächlich in der Human-Therapie, vor allem der Psychotherapie, Beachtung gefunden. Doch auch für Tiere im Allgemeinen und Pferde im Besonderen könnte eine Manualtherapie unter Berücksichtigung einiger Aspekte der Polyvagaltheorie vielversprechende Verbesserungen bedeuten. Bislang sind solche Ansätze jedoch kaum weiterverfolgt worden.
Das klassische Modell
Das Nervensystem kann unter zwei verschiedenen Aspekten strukturiert werden. Die klinisch- praktische Unterscheidung unterteilt das Nervensystem in ein zentrales und in ein peripheres Nervensystem. Diese rein topografische Unterteilung unterscheidet diejenigen Nerven, die im Gehirn und Rückenmark zu finden sind von denjenigen Nerven, welche die Wirbelsäule verlassen und die Peripherie des Körpers nerval versorgen. Diese Theorie hat jedoch die Schwachstelle, dass periphere Nerven mit ihrem Zellkörper meist im zentralen Nervensystem (ZNS) beginnen, und somit eine strukturelle Trennung nur bedingt möglich ist.
Das Nervensystem kann aber auch in seinem Wirkungsbereich unterschieden werden. In diesem Fall spricht man vom somatischen und vom vegetativen, oder autonomen Nervensystem.
Das somatische Nervensystem ermöglicht die Wahrnehmung der Umwelt und des eigenen Körpers, sowie die willentliche Bewegung durch unsere Muskulatur.
Das autonome Nervensystem arbeitet unabhängig von unserem Willen, es regelt das Zusammenspiel aller Organe und sichert so unser Überleben. Das autonome Nervensystem wird seinerseits unterteilt in den Sympathicus und den Parasympathicus.
Der Sympathicus wird aktiv, wenn wir in Gefahr geraten, er bereitet uns auf Flucht oder Kampf vor. Er sorgt u.a. für erhöhten Herzschlag, weitet Pupillen und Bronchien und liefert Energie für die Muskulatur. Ist die Gefahr gebannt, wird der Parasympathicus aktiv, er beruhigt und entspannt.
Einer der wichtigsten Nerven des parasympathischen Systems ist der X. Hirnnerv, der Vagusnerv. Er wurde lange als ein einzelner Nervenstrang angesehen und beinhaltet sowohl motorische als auch sensible Fasern. Da er auch einige sympathische Fasern hat, kann der Vagus-Nerv jedoch nicht mit dem Parasympathicus gleichgesetzt werden.
Sein Name kommt nicht von ungefähr, denn übersetzt heißt dieser Nerv so viel wie “umherziehender Nerv”. Obwohl der Vagusnerv zu den 12 Hirnnerven zählt, wandert er durch den Körper, innerviert Halsmuskeln, zieht zur Lunge und zum Herzen, passiert Teile des Darms sowie die Nieren.
Ventraler und dorsaler Vagus-Ast
Dr. Porges hat das Modell des autonomen Nervensystems um einen Part erweitert. Neben dem Sympathicus differenziert er den Vagusnerv in einen ventralen, also dem Bauch zugewandten Ast, und einem dorsalen, dem Rücken zugewandten Ast. Auch topografisch macht eine Unterscheidung Sinn, da man mittlerweile weiß, dass beide Teile an unterschiedlicher Stelle entspringen.
Der ventrale Ast entspringt dem Hirnstamm und läuft zu den Bronchien, Herz und Lungen und fördert den Sauerstofftransport. Im Hinblick auf die Polyvagaltheorie hat dieser Ast die Aufgabe, ruhige Aktivitäten zu fördern, solange wir uns sicher fühlen. Er ist für positive Emotionen zuständig.
Der dorsale Ast entspringt dem 4. Hirnventrikel, einem mit Liquor cerebrospinalis gefülltem Binnenraum im (Rauten)Hirn. Er läuft zu inneren Organen, Milz, Leber, Magen, Nieren und Pankreas.
Emotional gesehen ist dieser Ast für Entspannung und Verlangsamung verantwortlich, bis hin zu depressivem Verhalten.
Die fünf Zustände
Die Polyvagaltheorie unterscheidet fünf emotionale Zustände, je nachdem, welche Äste des autonomen Nervensystems aktiv sind.
Wie oben beschrieben fördert der ventrale Ast des Vagusnervs bei Aktivierung positive Gefühle wie Freude, Zufriedenheit und Liebe. Er sorgt für Überlebenschancen in einem sozialen Kontext, für Geborgenheit, Zusammenhalt und Fortpflanzung.
Der dorsale Ast kann zur Ruhe und Entspannung beitragen, er wird aber auch bei Hoffnungslosigkeit aktiviert, dem Gefühl völliger Hilflosigkeit. Das Lebewesen wirkt apathisch. Der amerikanische Körpertherapeut Stanley Rosenberg beschreibt in seinem Buch Der Selbstheilungsnerv eine Situation, in der ein Antilopenjunges im Maul eines Löwen erstarrt und wie tot wirkt. Da der Löwe kein Aasfresser ist, lässt dieser vom Antilopenjungen ab und zieht weiter. Kurz darauf steht das Junge auf und läuft zurück zu seiner Herde.
Somit sorgt der dorsale Ast für Überlebenschancen durch Erstarren, ein wichtiges Puzzle-Teil, welches im alten Modell gefehlt hat.
Der Sympathicus wird wie im klassischen Modell bei Gefahr aktiv. Während der dorsale Vagus-Ast bei Angst eher immobilisiert, macht der Sympathicus mobil.
Er sichert das Überleben durch Kampf oder Flucht.
Die Polyvagaltheorie kennt aber noch zwei Hybrid-Zustände, die aus Kombination der oben genannten Nerven entstehen können. Sind sowohl der Sympathicus als auch der ventrale Vagus- Ast aktiv, kann von einer angstfreien Mobilisierung gesprochen werden. Der Körper wird im Kontext sozialer Sicherheit zu körperlicher Höchstleistung animiert, wie es z.B. im Sport der Fall sein kann.
Wenn sowohl der dorsale als auch der ventrale Vagus-Ast aktiv sind, finden wir Ruhe und Entspannung und können Zärtlichkeit und Vertrauen erleben.
Der XI. Hirnnerv
Ergänzt werden muss die Theorie noch durch den XI. Hirnnerv, den nervus accessorius, der zusätzliche Nerv. Er entspringt derselben Struktur wie der ventrale Vagus-Ast. Ihm kommt eine besondere Rolle zu, da er als Hirnnerv motorisch die Skelettmuskulatur innerviert. Dies macht dadurch Sinn, dass alle Gehirnnerven an der Ernährung beteiligt sind, sei es durch das Auffinden, das Pflücken oder das Verdauen. Und auch der XI. Nerv ist daran beteiligt, denn er innerviert sowohl den musculus trapezius als auch den musculus sternocephalicus. Auch diese Muskeln sind in einer gewissen Art an der Nahrungssuche beteiligt.
Viele Anatomen sehen den X. und XI. Nerv als einen gemeinsamen Nerv an, da die Fasern eng miteinander verwoben sind. „Deswegen ist es schon theoretisch naheliegen, ihn [den nervus accessorius, Anm. d. Verf.] dem Vagus zuzurechnen (N. vagus accessorius)“ (Nickel 2004). Somit liegt die Vermutung nahe, dass eine Funktionsstörung des Vagusnervs Auswirkungen auf den nervus accessorius haben kann, und damit auf den Tonus des musculus trapezius. Rosenberg beschreibt bei einer Funktionsstörung des XI. Hirnnervs Schmerzen und Steifheit im Nacken und Schulter, Atembeschwerden sowie Migräne.
Die Relevanz für Pferdetherapeuten
Wenn man den Zusammenhang der verschiedenen Nerven, ihren Verläufen und den emotionalen Zuständen betrachtet, wird schnell klar, wie sich sowohl Physis als auch Psyche beeinflussen können. Ein durch Angst und Hoffnungslosigkeit aktivierter dorsaler Ast kann durchaus Einfluss auf die ebenfalls innervierten Strukturen und Organe ausüben. Die Herzfrequenz sinkt, der Blutdruck fällt, das Pferd wirkt kraftlos und phlegmatisch. Die Atemwege ziehen sich zusammen, Symptome ähnlich denen von Asthma oder COPD werden sichtbar. Muskulatur und Bindegewebe erschlaffen, das Pferd wirkt hypoton.
Der Sympathicus sorgt wiederum für eine erhöhte Herzfrequenz, Luftwege werden erweitert, Muskeln spannen an, die Verdauung verschlechtert sich, da der Sympathicus die Darmperistaltik verlangsamt.
Und nicht zuletzt der Aspekt des nervus accessorius zeigt uns, dass ein schmerzender, in seiner Funktion eingeschränkter Trapezmuskel durch z.B. einen unpassenden Sattel wiederum die Aktivität der entsprechenden Nerven beeinträchtigen kann.
Fazit
Die Polyvagaltheorie erweitert die bislang gängige antagonistische Theorie des vegetativen Nervensystems um einen interessanten Aspekt, um die des dorsalen Vagus-Astes. Sie kann apathisches Verhalten erklären und liefert eine Möglichkeit, dieser therapeutisch zu begegnen. Der Behandlungsansatz, den ventralen Vagus-Ast durch physiologisch-therapeutische Maßnahmen zu aktivieren, um so dem Ungleichgewicht und den damit verbundenen Problemen entgegenzuwirken, klingt vielversprechend.
Die Übertragung der Behandlungstechniken aus dem Humanbereich in den Veterinärbereich ist jedoch ungleich schwieriger. Als Beispiel soll hier eine Übung genannt werden, bei der eine bestimmte Kombination aus Bewegung und Blickrichtung erfolgen soll. Auch eine Einschätzung der Vagus-Aktivität anhand der Position des Gaumenzäpfchens, wie es im Humanbereich möglich ist, kann nicht einfach übernommen werden. Die Beurteilung des Pferdeverhaltens könnte in diesem Zusammenhang eine noch größere Rolle spielen. Somit wird die Suche nach adäquaten Techniken in nächster Zeit eine spannende Aufgabe für uns am arthron darstellen.
Dennoch sei an dieser Stelle auch auf die Verantwortlichkeit des Therapeuten hingewiesen. Egal welcher Theorie man folgt, ob klassisch antagonistischer Theorie oder Polyvagaltheorie, die Natur hat ein solches System etabliert, um dem Lebewesen das Überleben zu sichern und ihm die Möglichkeit zu geben, ausweglose Situationen erträglich zu bewältigen. Somit steht der Therapeut immer in der ethischen Zwickmühle, das physische gegen das psychische Wohl abzuwägen.
Zwar mag es sinnvoll erscheinen, ein verspanntes Pferd zu behandeln, rührt diese Verspannung jedoch aus einer 23h andauernden Boxenhaltung, so bietet die Aktivierung des dorsalen Vagus- Astes dem Pferd möglicherweise die einzige Lösung, diesen Zustand halbwegs zu ertragen. Eine Aktivierung des ventralen Vagus-Astes würde somit nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch auf Dauer wenig erfolgversprechend sein, solange die Haltungs-Art nicht geändert wird.
Denn eines sollte uns auch im (Therapeuten-) Alltag immer klar sein:
Vieles, was uns als Problem erscheint, ist aus Sicht des Patienten nicht das Problem, sondern es stellt die Lösung dar.
Und wer verzichtet schon freiwillig auf Problemlösungen...
Quellenangabe
Nickel, Richard; Schummer, August und Seiferle, Eugen.: Lehrbuch der Anatomie der Haustiere. 4. Auflage. Parey Verlag. Stuttgart 2004
Porges, Stephen W.: Die Polyvagal-Theorie. 2. Auflage. Junfermann Verlag. 2010.
Rosenberg, Stanley.: Der Selbstheilungsnerv. 8. Auflage. VAK Verlags GmbH. Kirchzarten/Freiburg
2020