Bewegung versteht man nicht, wenn die Muskeln isoliert betrachtet werden. Im Körper arbeiten sie immer im Verbund zusammen. Dabei sind die Muskeln in "Reihe geschaltet" und agieren in Ketten, die über weite Strecken durch den Körper ziehen.
Bereits in der 1950er Jahren hat Kurt Tittel (Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen) durch Beobachtung einen Großteile der myofaszialen Ketten entdeckt, die später von Thomas Meyers in den 2000ern über Sektionen herausgefunden wurden.
Diese von Meyers entdeckten myofaszialen Ketten wurden ab 2015 von Elbrønd & Schultz im Pferd gesucht und gefunden. Es muss jedoch erwähnt werden, dass die Sektionen bestimmten Regeln folgten, leicht geänderte Regeln würden schon wieder zu anderen Ergebnissen führen. Das tensegrale System muss als Gesamtnetzwerk verstanden werden- nicht als Summe von Einzelmuskeln oder mehreren unabhängigen Muskelketten.
Zur Zeit sind 11 bis 12 (je nach Zählweise) myofasziale Ketten im Pferd bekannt, welche auf mechanischer Ebene die Bewegung organisieren. Mechanisch bedeutet hier, dass sie durch den mechanischen Zug Weiterleitungsfähigkeiten besitzen und nicht auf das Nervensystem zur Informationsweiterleitung angewiesen sind. Am besten stellt ihr euch zwei Klingeln vor: Eine funktioniert über Strom (Nervensystem), die andere über ein Band, an dem gezogen wird (Mechanik). Faszinierend ist, dass diese Faszien-initiierte Übertragungsgeschwindigkeit höher ist als die schnellsten Nerven.
Den meisten sind die oberflächige ventrale (bauchwärts) und dorsale (zum Rücken gelegen) Ketten geläufig. Sie verbinden die Hinterhand mit dem Schädel des Pferdes und haben in der Kaumuskulatur einen gemeinsamen Ansatz. Es gibt darüber hinaus noch die tiefe dorsale und ventrale Kette. Beide Ketten verlaufen vereinfacht betrachtet vom Schweif zum Kopf, liegen also näher an der Wirbelsäule.
Die tiefe ventrale Kette ist dabei hochkomplex, da sie den Brust, Bauch- und Beckenhöhle auskleidet, das Zwerchfell mitnimmt und alle Organe umhüllt. Auch trifft sie auf sehr viele Nerven. Sie hat also extremen Einfluss auf die Emotionen (über die Atmung und die Nerven) als auch auf die Organe des Pferdes und ist bei Organproblemen meist gestört. Alle Ketten kommen auf beiden Seiten des Pferdes vor, wobei die tiefe ventrale Kette im Körper auch als EINE Kette gezählt werden kann.
Weiterhin verläuft auf der linken und rechten Körperseite die sogenannte laterale Kette. Auch sie verbindet die Hinterhand mit dem Kopf des Pferdes. Sie besitzt einen tiefen und oberflächigen Anteil, kann also als eine Kette oder als 2 Ketten betrachtet werden.
Die Vorhand besitzt 4 Ketten für jede Richtung. Vorführen (Protraktion) und Rückführen (Retraktion) der Gliedmaße sowie das "zum Körper ziehen" (Adduktion) und vom Körper wegführen (Abduktion) des Beines. Dabei sind die Bewegungen der Protraktion/Adduktion und Retraktion/Abduktion miteinander gekoppelt.
Zu guter Letzt gibt es noch zwei diagonale Ketten. Sie kreuzen mehrfach die Mittellinie des Pferdes und verbinden Vorhand und Hinterhand über die Digonale. Eine dieser Ketten (die spirale Kette) habe ich bereits im Artikel Rumpfträger erwähnt und sind der Grund, warum sich Probleme und Lahmheiten oft über die Diagonale verschieben.
Die Körperhaltung und Bewegung wird demnach über 24 Ketten gesteuert. Wir kennen es - ein geradegerichtetes Pferd, bei dem das System harmonisch gespannt ist, steht geschlossen auf seinen Beinen. Der erste Hinweis in der Grußaufstellung auf dem Turnier. Je mehr das Fasziensystem verzogen ist, desto krummer steht das Pferd. Die Zugspannungen in den Ketten zu harmonisieren ist die Beschreibung der tensegralen Regulation, wie ich sie in Artikel 5 beschrieben habe.
Für das bessere Verständnis der tensegralen Aufspannung stellt man sich am besten eine Luftmatratze vor. Ohne Luft liegt sie ohne Spannung in der Gegend herum und lässt sich beliebig verbiegen. Mit etwas Luft erhält sie ihre Form und lässt sich schon schwerer biegen. Voll aufgepumpt hingegen ist ein Verbiegen noch weniger möglich und sie schnellt in ihre natürliche Form zurück, sobald die verbiegende Kraft wegfällt. Solange kein Loch in der Matratze ist, bleibt die Form.
Genau dies passiert mit dem Pferd: Es richtet sich auf, wird größer und gerader. Der Hals wird lang und leicht über der Waagerechten gehalten. Dies entspricht dem typischen Bild der früheren Remontenhaltung.
Starke seitliche Halsbiegungen sind schwer möglich und auch nicht gewollt. Das starke seitliche Biegen und ständige seitliche Verschiebungen entsprechen eher dem Vorgang, Luft aus der Luftmatratze zu lassen. Die maximale Aufspannung ist so nicht möglich.
Das Wissen um die Ketten kann weiterhin aufräumen mit einigen Mythen. So liegt zum Beispiel der Rumpfträger NICHT in der ventralen Kette (orange im Bild). Es ist schlicht unmöglich, die Vorhand über das Anspannen dieser Kette anzuheben, im Gegenteil. Insbesondere die tiefe Bauchkette sorgt dafür, dass sich das Pferd nicht aufrichten kann. Wir benötigen die Aktivierung der spiralen Kette über Vorhand und Hinterhand, um den Rumpf anzuheben.
Ebenso muss der Mythos des antagonistischen Hemmung in Bezug auf die Ketten angesprochen werden. Darunter versteht man, dass sich beim Anspannen eines Muskels (zum Beispiel ein Beuger) der Gegenspieler ( hier der Strecker) entspannen muss. Dies geschieht auf Ebene der Muskelfaser, kann aber nicht ins tensegrale System übernommen werden. Wird zum Beispiel der Bauch ( die ventrale Kette) angespannt, so hofft man, dass sich der Rücken entspannt. Das Gegenteil ist der Fall: die Rückenlinie gerät durch die Dehnung in einer vermehrte Spannung und wird oft noch mehr belastet.